Wenn mein Koffer platzt – und das Chaos mich besser kennt als ich

Die Waage zeigt rot. Ein kurzer Piepton, dann die Zahl. Zwei Kilo darüber. Ich sehe meinen Koffer an, er sieht zurück. Wir kennen uns lange. Wir wissen, wie das endet.

„Ein bisschen zu schwer“, sagt der Mann am Flughafenschalter. Sein Lächeln sitzt fest, aber freundlich. Ich lächle zurück, in der stillen Hoffnung, dass mein Lächeln etwas wiegt – und vielleicht das Gepäck leichter macht. „Sie können umpacken“, schlägt er vor, in einem Ton, als wäre das keine Tragödie, sondern eine Option. Links versucht jemand, ein Surfbrett als Handgepäck zu tarnen. Rechts stopft ein Mann eine Wollmütze in seinen Schuh. Internationale Kreativität im Angesicht der Physik. Ich nicke, öffne den Koffer. Er atmet aus. Schicht um Schicht: Bücher, die ich „für den Strand“ einplane, obwohl ich am Strand nie lese. Drei gleiche Kleider im fröhlichen Schwarz – meiner Lieblingsfarbe. Zwei Paar Schuhe, falls das erste Paar spontan aufgibt. Kabel für mein ganzes technisches Equipment – die Stromversorgung meiner Gewohnheit. Eine kleine Reiseapotheke, falls die Welt kurz ins Wanken gerät. Und mittendrin ich, verteilt auf Stoff und Vorsicht. Ich starre auf das geordnete Chaos.

Ich verhandle mit der Waage. „Ich brauche Möglichkeiten“, denke ich. „Ich reise nicht gegen das Chaos an, ich rüste mich für alle Varianten davon.“ Die Waage antwortet nicht. Sie ist Physik, nicht Psychologin.

Ich nehme ein Buch heraus. Das dickste. Ein klassischer Irrtum: Man spart Gewicht und verliert Alibi. Ich lasse die Reiseapotheke drin. Falls etwas passiert. Falls ich jemand bin, dem ständig etwas passiert. Meist passiert mir: nichts.

Dann die Flip-Flops. Sie wandern ebenfalls ins Handgepäck. Ich stelle den Koffer wieder auf die Waage. Immer noch zu schwer. Der Mann schaut mich an, ich ihn. Unser gemeinsames Lächeln ist ein stilles Bündnis gegen die Schwerkraft. Die Anzeige bleibt über dem Limit, aber er nickt. „Passt schon“, sagt er. Und für einen Moment fühlt sich die Welt an wie eine, in der Nachsicht mehr gilt als Zahlen.

Im Flugzeug sortiere ich Gedanken wie andere ihr Handgepäck. Warum packe ich so? Weil Möglichkeiten beruhigen – auch für jene, die nie eintreten. Ich will vorbereitet sein auf das Leben, als wäre es eine Aufgabe mit Lösungsteil. Weil das Gewicht im Koffer leiser ist als jenes im Kopf. Ich lehne den Sitz zurück und stelle ihn gleich wieder aufrecht. Kontrolle hat ein feines Gehör – sie wacht auf, sobald es zu ruhig wird.

Am Zielort riecht es nach warmem Stein und Salz. Das Taxi fährt durch schmale Straßen, vorbei an weißen Häusern mit offenen Fenstern. Das Meer glitzert, als wäre es nur für mich wach geblieben. Ich stelle den Koffer im Zimmer ab. Er wirkt beleidigt, weil ich ihn nicht sofort öffne. Ich gehe hinunter an die Küste. Der Wind streicht mir durchs Haar, der Sand knirscht, das Wasser ist kühl. Ich gehe hinein, bis das Kleid nass wird. Dann bleibe ich stehen.

Die Tasche liegt am Rand wie ein Punkt am Ende eines langen Satzes. Ich sehe sie an – und spüre nichts, was fehlt. Das Meer zieht sich zurück, kommt wieder. Eine einfache Bewegung, wie ein Atemzug, der sich selbst genügt.
Am Abend öffne ich den Koffer. Ich nehme weniger heraus, als ich eingepackt habe. Es fehlt mir nichts. Keines der schwarzen Kleider verlangt Bühne, kein Kabel will Beachtung. Ich falte die Dinge neu, aber ohne Ehrgeiz. Der Koffer wiegt gleich, doch etwas hat sich verschoben: nicht außen, sondern innen.

Am nächsten Morgen gehe ich wieder ans Meer. Barfuß. Die Flip-Flops bleiben im Zimmer, zufrieden. Ich schreibe mir eine Notiz ins Handy: Ich muss nichts loslassen, um frei zu sein. Ich muss nur aufhören, mir selbst Ballast einzureden. Dann stecke ich das Handy weg und gehe weiter. Das Wasser kommt und geht. Ich bleibe.

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4 Kommentare

  1. Monika Breiden

    Hallo Tanja, ich freue mich jetzt schon auf dieses Buch!
    Ich hoffe, das es Dir gut geht und grüße Dich ganz herzlich aus dem Braunschweiger Land!

    • Hallo liebe Monika, schön von Dir zu lesen und danke Dir für Deinen Kommentar!
      Mir geht es gut. Hoffe, Dir auch?
      Mit dem Buch wird es allerdings noch etwas dauern, aber es wird 2026 erscheinen ;-)

      Liebe Grüße Tanja

    • Das freut mich, liebe Barbara! Danke für Deinen Kommentar.

      Ich schreibe gerade tatsächlich mal an einem ganz anderen Buch. Kein Reiseführer, kein Genuss-Buch, sondern eines über mich: Wenn das Meer zuhört – Geschichten vom Loslassen, Reisen und Ankommen

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