Wusstet Ihr, dass Bielefeld über viele Jahrzehnte hinweg für Wäsche berühmt war? Inmitten der einstigen Leinenstadt befindet sich ein ganz besonderer Lost Place: Ein verlassener Ort, an dem Geschichte lebendig wird. Kommt mit auf meine Reise in die Wäschefabrik nach Bielefeld, taucht wie ich in bemerkenswerte Zeitgeschichte ein und erweckt das Museum aus dem Dornröschenschlaf – Ihr werdet wie ich begeistert sein!
Bielefelder Wäsche als Markenzeichen
Bielefelder Wäsche war über das ganze Land hinaus bekannt. In der Leinenstadt gab es 1924 über 200 Wäschefabriken. Tausende fleißige Frauen fertigten über Generationen im Takt der Nähmaschinen besondere Wäsche mit hoher Qualität. Jedes dritte Mädchen in Bielefeld wurde Näherin, Büglerin oder Stickerin. Ob Damen- oder Herrenwäsche, Wäschefabriken oder Nähstuben – Bielefeld war damals der Dreh- und Angelpunkt, wenn es um gute Wäsche ging. Von Stickereien und Hohlsäumen mit besonderen Macharten bis hin zu hochwertigem Leinen wurde in Bielefelder Wäschefabriken sehr auf Qualität geachtet. Damasttischwäsche aus Bielefeld war bei Königshäusern hoch geschätzt und wurde gern mit eingewebtem Wappen und Namen in Auftrag gegeben. Durch diese Blütezeit der Bekleidungsindustrie wurde die größte Stadt der Region Ostwestfalen-Lippe damals schon zu einer Großstadt.
Museumsglück im Hinterhof
Fast hätte ich den Eingang übersehen. Versteckt in einem Hinterhof liegt im Bielefelder Spinnereiviertel die Wäschefabrik. Auf dem Bürgersteig entdecke ich Stolpersteine der Inhaber und mache mich durch den schmalen Gang auf dem Weg zu einer besonderen Zeitreise. Ist der Tag heute trist und grau, so wirkt die im Hinterhof befindliche Wäschefabrik nach wie vor imposant und als stattliche Unternehmensvilla. Das hier ist kein Museum im üblichen Sinn. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude wurde zurückhaltend restauriert und ist wirklich ein einzigartiges Kleinod der Industriekultur. Es hat den Anschein, als ob im Hinterhof die Zeit stehen geblieben ist und ich eine Welt vergangener Zeiten betrete.

Über einen schmalen Eingang der Hauptstraße gelangt man zur Wäschefabrik
Zeitzeugen der Vergangenheit
Der Boden knarrt unter mir, als ich über die Treppe die Fabrik betrete. Wie damals ein Vertreter oder Lieferant melde ich mich an der Zentrale. Hinter dem alten Glasfenster lächelt mir freundlich eine Dame zu. Wie damals ist auch sie die erste Anlaufstelle, nur heute für meinen Museumsbesuch zuständig. „Sie dürfen alles anschauen, bitte nichts anfassen oder verändern.“, werde ich freundlich aufgeklärt. Das Museum lebt von dem letzten Moment und genauso soll es für alle anderen Besucher erhalten bleiben. Ich nicke ehrfürchtig und bin jetzt schon ganz kribbelig, diesen verlassenen Ort weiter zu erkunden.

Die Zentrale ist heute wie damals der Empfang des Hauses. Museumsbesucher betreten wie damals Vertreter oder Lieferanten die Wäschefabrik.
Die hinter der Zentrale liegenden Büroräume hebe ich mir für später auf. Mich reizt das einzige Utensil im Haus, welches gern angefasst werden darf. Im Flur der Wäschefabrik thront es sichtbar: Ein weißes Perlonhemd! Steif und spröde fühlt es sich an und ich kann nicht begreifen, dass man so etwas mal getragen hat. Möchte nicht wissen, wie man in solchen Hemden geschwitzt hat. 100%ig nicht atmungsaktiv, leicht entzündbar (damals wurde noch viel geraucht) und bleibt garantiert in jeder Ecke stehen. Das war mal ein Verkaufsschlager? Ja, weil es günstig war, pflegeleicht und bügeln brauchte man dieses heiße Teil im wahrsten Sinne des Worte auch nicht.
Ein begehbares Denkmal – So verlassen und doch so lebendig…
Die Fabrik ist ein Lost Place, der doch nicht verlassen ist. Es kann einem fast ein bisschen unheimlich werden. Ich habe das Gefühl, als ob jeden Moment die Mittagspause in der Wäschefabrik endet und die Näherinnen aus ihrem Pausenraum laut plappernd in die Fabrik zurückströmen, sich die Türen öffnen, das Haus wieder mit Leben füllt. Die Atmosphäre ist einzigartig und raubt mir den Atem. Andächtig bleibe ich stehen. Sauge diesen besonderen, stillen Moment in mir auf und in meinem Kopf beginnt innerlich ein Film, wie das Gebäude wieder zum Leben erwacht.
Jeder Winkel der Wäschefabrik sieht noch genauso aus wie 1980, als die Fabrik geschlossen wurde. Überall liegen Garnrollen, Musterbücher, Schnittvorlagen, Aktenordner und Stoffe herum. Alte Nähmaschinen stehen aufgereiht und scheinen nur zu pausieren. Selbst die Bügeleisen scheinen nur auf die Hemden und Wäsche zu warten.
Jeder Raum ein Höhepunkt für sich
Ich komme aus der Begeisterung nicht mehr heraus, die mir dieses Museum bietet. Vom Besucherzimmer, über Kontenraum, weiter zum Bügelraum, Versandabteilung bis hin zum Musterzimmer – jede Räumlichkeit hat eine bemerkenswerte Atmosphäre. Als Hobbynäherin berauscht mich der Nähsaal. Entzückt bin ich von den vielen alten und unterschiedlichen Nähmaschinen von Dürkopp, Singer und Adler aus unterschiedlichen Epochen. Nähfreunde werden im siebtem Himmel schweben. In diesem Herzstück der Produktion spürt man unbeschreiblich, wie die Geschichte stehengeblieben ist. Ich schaue genauer und entdecke, dass so manche Maschine noch den Faden eingefädelt hat. Alleine im Raum vergesse ich die Zeit und spüre die Geschichte lebendig werden. Vor mir liegen Modehefte, teilweise aufgeblättert, als ob die Zeitschrift eben erst liegen gelassen wurde. Halbfertige Nähteile sind auf den Tischen ausgebreitet.
Wo viel gearbeitet wird, dürfen Buchhaltung und Büros nicht fehlen – selbstverständlich auch das Chefbüro nicht. Hier gerate ich wieder in einen wahren Fotografierausch! Ein bisschen fühle ich mich als Eindringling, der sich unerlaubt Zutritt verschaffen hat. Wie ein Spion auf Ermittlertour scannt mein Auge persönliche Dinge auf Schreibtischen, in Verkaufsakten und dem halb geöffneten Safe. Alles ist so lebendig, dass ich ganz leise bin und fest davon überzeugt, dass jeden Moment hinter mir ein Mann mit Zigarre steht, sich räuspert und mich fragt, was ich in seinen Büroräumen zu suchen habe.

Es müsste jeden Moment klingeln…

Geheime Akten im Safe

Das Büroleben vergangener Zeiten
Der Blick in die Büros lässt mich die damalige Geschäftigkeit erahnen und beinahe höre ich ein Telefon klingeln, die Rechenmaschinen rattern und das Papierrascheln beim Umblättern in Aktenordnern. Gerade weil hier alles so verlassen wirkt, wirkt es auf groteske Weise außergewöhnlich lebendig. Das ist faszinierend und für mich eines der ausgefallensten Museen überhaupt.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Der Ausflug in die Wäschefabrik ist eine Zeitreise in unsere Industriekultur gepaart mit vielen persönlichen Geschichten. Wer wie ich keine Führung bucht, kann in kleinen Filmsequenzen auf die Reise der Familiengeschichte und Mitarbeiter gehen. Die Geschichte der Wäschefabrik ist leider keine ungetrübte Familiensaga. Firmengründer Hugo und Klara Juhl waren jüdischen Glaubens. Bis auf den Schwiegersohn Fritz Bender überlebte keiner aus der Familie das nationalsozialistische Regime. In einer kleinen Kammer im Eingangsbereich sitze ich und lausche zum Abschluss meines Museumsbesuches im Film Fritz Bender, der im zweiten Weltkrieg nach Kanada geflohen ist und als 90jähriger Mann Anfang der 90ziger für Filmaufnahmen wieder nach Deutschland in die Familienfabrik reist. Gleichermaßen bewegend sind die anderen Kurzfilme mit Zeitzeugen aus dem Unternehmen. Noch heute unterstützen ehemalige Mitarbeiter den Verein der Wäschefabrik ehrenamtlich.
Wer sich vor seinem Besuch in der Wäschefabrik einstimmen mag, sollte die dazu passende WDR-Wunderschön-Sendung sehen. Dadurch bin ich überhaupt auf dieses einzigartige Museum aufmerksam geworden. Helga Kramm, eine langjährige Mitarbeiterin der Wäschefabrik, berichtet in dieser Sendung fesselnd zu Ihrem (Arbeits)Leben in der Fabrik.
Etwas traurig verlasse ich die Unternehmensvilla. Der verlassene Ort war lebendig und bewegend. Während ich durch den Garten zur Straße gehe, hänge ich immer noch in Gedanken an dem Haus, an den Menschen, die hier einmal gearbeitet haben. Jetzt kommt mir die reale Welt hektisch und unwirklich vor. Der Museumsbesuch hat bei mir einen sehr bleibenden Eindruck hinterlassen und das solltet auch Ihr Euch nicht entgehen lassen!
Kommt mit zu einem Museumsbesuch in die Wäschefabrik:

Kostengünstig Bielefeld entdecken geht prima mit der Tourist-Card Bielefeld
Offenlegung: Meine Reise wurde unterstützt vom Tourismus NRW e.V. und dem Teutoburger Wald Tourismus. Ganz herzlichen Dank für die besondere Fotoerlaubnis in der Wäschefabrik.
Meine Meinung bleibt wie immer die eigene.
Wenn Ihr mehr zu Ausflugszielen und Reisetipps zu NRW wissen wollt, folgt im Socialweb dem Hashtag #DeinNRW und natürlich hier im Blog dem NRW-Link ;-)
[…] richtig spannende Wäschefabrik aus längst vergangenen Zeiten hat Tanja […]
Wir sind schwer begeistert von den schönen Fotos und dem liebevoll geschriebenen Blog und freuen uns sehr!
Herzliche Grüße von der ganzen Crew des Museum Wäschefabrik und vielen Dank!
Das freut mich sehr! :-) Danke für den lieben Kommentar :-)
Ganz toll Tanja! Super Perspektiven bei den Fotos! Das ist der richtige Ort für mich. Und ich denke auch für meine Männer. Ein fabelhafter Ausflugstipp, den ich ganz sicher aufgreifen werde. Gibt es auch einen Café-Tipp für Bielefeld von dir? Sonnige Grüße, Jutta
Danke Dir liebe Jutta. Schau mal in den Artikel: https://www.vielweib.de/2016/01/bielefeld-kulinarisch/ Die Kirche ist außergewöhnlich für eine Kaffeepause. Das Schlösschen liegt Nähe der Innenstadt und besticht ebenfalls mit einem besonderem Charme. Liebe Grüße, Tanja
Was für ein toller Bericht, liebe Tanja.
Ich liebe solche Museen. Ich würde mich am liebsten sofort ins Auto setzen und da hin fahren. Ganz tolle Bilder.
Liebe Grüße, Heike
Danke Dir. Auf jeden Fall hinfahren und machen. Ein Kleinod der Industriekultur und eines der außergewöhnlichsten Museen, welches ich je besucht habe :-)